Tschernobyl – Swetlana Alexijewitsch

Über die Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk in Tschernobyl am 26. April 1986 wurde schon viel geschrieben. Es gibt Filme, seit ein paar Jahren auch eine Serie. Für furchtlose Touristen gibt es sogar Führungen in die verstrahlte Zone.
Mich hat das Ganze nie interessiert. Als es zur Explosion kam, war ich 11 Jahre alt und hatte andere Dinge im Kopf. Selbst, wenn man in den Zeitungen und TV ständig darüber berichtet hätte (was man nicht tat…), wäre es an mir vorbeigegangen. Auch später, als in 24-Stunden-TV-Marathonen russlandweit Spenden für Erkrankte gesammelt wurden, war das nur eine weitere unwichtige Information, irgendwas mit Strahlung.
Die HBO-Serie Chernobyl sorgte 2019 für Furore, und die Berichterstattung machte mich neugierig. Irgendwo las ich, dass Swetlana Alexijewitschs Buch Tschernobyl für die Macher der Serie eine große Rolle gespielt habe. Viele Szenen aus dem Buch seien in der Serie zu sehen. Beim Namen der Autorin war mir klar, dass ich das Buch lesen würde. Ich kannte schon Alexijewitschs Art, eine große Geschichte aus vielen kleinen Puzzleteilchen zusammen zu setzen. In ihren anderen Werken ist die Stimme der Autorin nicht zu hören, in Tschernobyl gibt es auch von ihr selbst einen Monolog. Sie lebt in Belarus und ist eine Zeitzeugin. Sie beobachtet ihre Welt genau, hört hin und hört zu.

Tschernobyl ist in der ersten Fassung in den 1990ern erschienen, 10 Jahre nach der Katastrophe. In den 2010ern hat Alexijewitsch das Buch um einen Drittel erweitert, aus Zensurgründen gestrichene Szenen wieder eingefügt und ein paar neue Interviews geführt.
Swetlana Alexijewitsch bekam für ihr Werk 2015 den Literaturnobelpreis. Mir fällt spontan kein anderer von mir gelesener Nobelpreisträger ein, denn meist ist das Literatur weit jenseits meiner Interessen. Ob die Nobelpreisträger den Preis verdient haben, ihre Werke wichtig für die Menschheit sind, kann ich also nicht sagen. Dass Alexijewitsch ihn verdient hat, steht für mich außer Frage. Ihre Bücher nehmen den Leser auseinander.

In Tschernobyl geht es nicht darum, wie es zum Unglück kommen konnte. Es gibt nur sehr wenige technische Details. Das Buch beschäftigt sich mit den Schicksalen der Menschen, die auf die eine oder andere Art davon betroffen waren. Es kommen zu Wort: Ehefrauen von Liquidatoren, Katastrophenhelfer, alte Bäuerinnen, todgeweihte Kinder, Politiker, Journalisten, Fotografen, Flüchtlinge etc. Durch ihre Monologe wird die Lage vor Ort deutlich, damals wie heute, das Versagen und der Verrat der Politik, die Lügen, die Hoffnung. Manche Monologe sind unglaublich schwer zu lesen. Diejenigen, die die Serie gesehen haben, werden wissen, was gemeint ist. Die Menschen wurden im Dunkeln gelassen, man ließ sie im verseuchten Gebiet tage- und wochenlang ohne Information, ohne Hilfe irgendeiner Art. Selbst wenn Gerüchte über das Ausmaß der Gefahr laut wurden, wurden diese rigoros unterdrückt, und falls nicht, glaubten die Menschen sowieso kaum etwas davon.

Immer wieder betonen Alexijewitschs Interviewpartner*innen, dass die Welt noch nicht bereit für eine technologische Katastrophe dieser Art war. Über Radioaktivität lernte man ein wenig in der Schule, meist ging es dann um den Atomkrieg. 70 % der verstrahlten Gebiete liegen nicht in der Ukraine, sondern in Belarus, wo die Menschen sich seit jeher mit Landwirtschaft über Wasser halten. Kaum jemand dort konnte die Gefahr einschätzen, selbst nach den Zwangsevakuierungen nicht.
Die Aufräumarbeiten rund um das Kernkraftwerk lassen beim Leser graue Haare wachsen. Das waren unfassbare Zustände. Radioaktive Abfälle wurden einfach in Gruben entsorgt, oft landeten sie im Grundwasser. Vergrabene Metallkonstruktionen und aufgegebene Häuser wurden geplündert und/oder auseinandergenommen, um sie an Ahnungslose zu verkaufen. Die Menschen arbeiteten mit bloßen Händen, ohne irgendeinen Schutz auf stark radioaktiven Böden.

Ein Thema kommt im Buch immer wieder vor: Die Bereitschaft der Slawen (Russen, Ukrainer, Weißrussen) zur Selbstaufopferung. Sie wurden dazu erzogen, in der Schule, in und von der Partei. Nur das größere Wohl zählt, alles andere muss warten.

Das Buch beginnt und endet mit einer Liebesgeschichte. Zwei Frauen erzählen von ihren Männern, einer war als Feuerwehrmann gleich nach der Explosion zum Reaktor 4 gerufen worden, der andere war als Techniker Monate nach dem Brand rund um Tschernobyl unterwegs. Beide bekamen die Strahlenkrankheit und starben. Die Monologe ihrer Witwen sind herzzerreißend, ohne Taschentücher sind diese Stellen kaum lesbar.

Tschernobyl ist eines der schwersten Bücher, die ich je gelesen habe, und eines der besten. Eine unbedingte Empfehlung.

(gelesen habe ich das Buch bereits 2021 und aus dieser Zeit stammt auch der Text)