Unsichtbare Frauen – Caroline Criado-Perez

Was für ein Buch!

Ich habe einige Wochen für dieses Sachbuch gebraucht, weil es in mehr als einer Hinsicht schwer zu lesen war.
Zum einen sind da die vielen Zahlen. Das Buch platzt vor Zahlen. Es gibt eine Unmenge von Prozentangaben, Jahreszahlen, Endnoten. Von den letzteren sind es 1331 Stück. Beeindruckend, oder? Zum anderen ist es der Text selbst. Der ist wirklich nicht leicht zu verdauen, vor allem für eine Frau. Zwar weiß frau schon vieles von dem, was die Autorin schreibt, aber es Schwarz auf Weiß zu sehen, ist schon sehr niederschmetternd.

Worum geht es denn eigentlich?
Der Titelzusatz des Buches verrät es:
„Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“.
Der Klappentext ist noch deutlicher:
„Unsere Welt ist von Männern für Männer gemacht und tendiert dazu, die Hälfte der Bevölkerung zu ignorieren.
Die Warteschlange vor der Toilette, die zu niedrige Durchschnittstemperatur im Büro oder die falsche Dosierung von Medikamenten: Unsere Welt ist nicht für Frauen gemacht, ja, sie kann sogar tödliche Folgen für sie haben. In ihrem bahnbrechenden und international gefeierten Buch zeigt Caroline Criado-Perez, wie Frauen systematisch diskriminiert werden, weil unsere von Big Data beherrschte Welt fast ausschließlich auf männerbezogenen Daten basiert.“
Bahnbrechend, ja, vielleicht. Wie erwähnt, vieles hat frau bereits gewusst oder geahnt, doch die Ausmaße sind dann doch deprimierend.
Ich würde also gerne noch „brechreizerregend“ hinzufügen.

Die Beispiele, über die die Autorin schreibt, hat sie durch jahrelange Recherche und eine unglaubliche Anzahl verschiedener Studien gesammelt. Die systematische Diskriminierung von Frauen zieht sich durch alle Zeiten, Länder und Kulturkreise. Dass wir uns mittlerweile im 21. Jahrhundert eingefunden haben, hat überhaupt nichts geändert.
Die Probleme, mit denen es eine Frau in einer für Männer entworfenen Welt zu tun bekommt, sind zahlreich. Wenn die Probleme erkannt werden, wird nicht etwa die Struktur geändert, sondern von den Frauen erwartet, dass sie sich anpassen. Aber, ehrlich, warum sollten wir?!
Warum müssen wir uns mit z. B. Sicherheitsgurten im Auto herumschlagen, die, egal wie frau die hin und her schiebt, immer die Brüste zu quetschen scheinen? Warum müssen wir immer eine Handtasche für unsere Geldbörse und Handy dabei haben, nur weil die Frauenkleidung keine entsprechenden Taschen hat? Warum müssen wir Medikamente einnehmen, die meist ausschließlich an Männern getestet worden sind, weil bei uns Frauen der Hormonspiegel die Testergebnisse versauen würde?

Caroline Cridao-Perez bringt natürlich noch andere Beispiele. Einige haben mich sprachlos dasitzen lassen. Andere haben mich das Buch für eine Weile zur Seite legen lassen, weil ich mich erst ein wenig beruhigen musste.

Die Autorin unterteilt das Buch in die Abschnitte „Alltagsleben“, „Am Arbeitsplatz“, „Design“, „Der Arztbesuch“, „Öffentliches Leben“ und „Wenn etwas schiefgeht“ (über den Wiederaufbau nach Katastrophen etc.)

Eines der ersten Beispiele ist eines über Schneeräumen. Ja, wo, fragt frau sich, kann hier denn eine Frau diskriminiert werden? Beim Schneeräumen geht es um Straßen, die alle nutzen. Also natürlich auch Frauen. Aber: Frauen und Männer bewegen sich nicht auf die gleiche Weise fort. Männer nutzen mehr das Auto, Frauen mehr die öffentlichen Verkehrsmittel und das Fahrrad. Als in einer schwedischen Stadt die Schneeräumarbeiten zuerst bei den Fahrrad- und Gehwegen stattfanden, und die normalen Straßen erst anschließend dran waren, gingen die Unfallzahlen zurück, in einem erheblichen Ausmaß gerade Unfälle der Frauen. Warum? Laut Criado-Perez bewegen sich Männer meist kurze und einfache Strecken fort. D. h. Wohnung – Arbeitsstelle. Frauen dagegen, die 75 Prozent der weltweiten unbezahlten Care-Arbeit erledigen, sind oft mit Kindern unterwegs, die sie in die Kindergärten oder in die Schule bringen, mit älteren Angehörigen, die sie zu Terminen begleiten, Apotheken, Bäckereien etc. aufsuchen, zu Fuß oder mit den Öffis.
Spannend? Fand ich auch. Das Ganze ist mit einer Fülle an Statistiken belegt und der Text mit Endnoten übersät.

Die Autorin belegt auch, dass sich die Situation für Frauen verbessert, wenn man(n) Frauen mitplanen lässt. Hier führt sie ein Beispiel an, dass mit Elektronik zu tun hat. Sie schreibt, dass z. B. die VR-Technik bei Frauen nicht so funktioniert wie bei Männern. Die Geräte müssen öfter nachjustiert werden, und sind trotzdem für Frauen problematischer zu handhaben. Das erwähnte Beispiel erzählt von einer Nutzerin, deren Virtual-Reality-Headset nicht funktionierte. Der Angestellte vom Kundenservice fragte sie, ob sie Wimperntusche trage. Zitat: „Als ich das Gerät ein paar Minuten später neu kalibriert zurückbekam, war ich überrascht – nicht, weil es funktionierte, sondern weil jemand an das Problem mit dem Make-up gedacht hatte. Zufällig war das eines der wenigen VR-Start-ups, das von einer Frau gegründet worden war.“
Noch ein Beispiel gefällig? Eines, das die „andere Seite“ zeigt? Bittegerne: Nach einer Naturkatastrophe in Südostasien wurden neue Häuser für die Betroffenen gebaut. Frauen wurden nicht mit in die Planung einbezogen. In den Häusern fehlten dann auch die Küchenräume.
Noch eines? Ein IT-Unternehmen entwickelte eine App für das Gesundheitswesen, mit der das Pflegepersonal die Patienten besser betreuen konnte. Die App fiel durch. Weil: Die meisten Angestellten im Gesundheitswesen sind weiblich. Wenn die Pflegerinnen Hausbesuche machen, müssen sie oft in sozial schwache Gegenden. Sie tragen daher ihre Wertsachen in der Unterwäsche. Ein Handy, ob nun mit einer App oder ohne, passt nicht in einen BH.

Criado-Perez beklagt vor allem, dass zu wenige nach Geschlecht und Gender getrennte Daten erhoben werden. Denn nur so kann man die Probleme lokalisieren, sichtbar machen und bekämpfen.
Ich habe selten in einem Buch so viele Textstellen markiert, wie in diesem. Es jagt einer den Blutdruck hoch, oh ja… Aber es ist eines der wichtigsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Ein Augenöffner.

Fazit: Pflichtlektüre für alle.

veröffentlicht am 05.09.2020 im Telegramkanal Eulenalltag