Die amerikanische Schriftstellerin Lois McMaster Bujold hat eine Space-Saga geschrieben, die in der Science-Fiction-Literatur (und nicht nur dort) ihresgleichen sucht. Da die meisten Romane des Zyklus sich um Miles Vorkosigan drehen, wird dieser als Die Vorkosigan-Saga bezeichnet, manchmal auch einfach als Barrayar-Reihe.
Zu dem Zyklus gehören neben gut 15 Romanen auch einige Erzählungen, alle zusammen zeichnen sie ein sehr realistisches, glaubwürdiges und sehr interessantes Roman-Universum, das sogar diejenigen Leser begeistern könnte, die einen Bogen um das Genre Science-Fiction machen. Ich bin mir sicher, richtiger wäre es, die Reihe als Abenteuer-Zyklus zu bezeichnen, aber da Raumschiffe und Wurmlöcher etc. vorkommen, ist SF so falsch nicht.
Die Handlung der Bücher spielt in ferner Zukunft, etwa 700 Jahre ab jetzt, möglicherweise auch mehr. Diese Zeiträume kommen in den Büchern nicht immer durch, es gibt kein ausschweifendes Techno-Gebabbel, die meiste beschriebene Technik klingt von der heutigen vermutlich nicht weit entfernt. Das liegt daran, dass die Vorkosigan-Saga bereits in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts gestartet wurde, viele der heutigen technischen Entwicklungen existierten damals vermutlich höchstens in den Köpfen der Phantasten. Moderne Science-Fiction-Romane sind da viel weiter, beispielsweise die Commonwealth-Saga von Peter F. Hamilton, die ca. 300 Jahre in der Zukunft spielt, aber technisch wesentlich mehr zu bieten hat als die Bücher von Lois McMaster Bujold.
Die Erzählungen und Romane der Reihe sind nicht chronologisch erschienen und eigentlich kann mit jedem Werk beginnen das Vorkosiganversum zu erkunden, aber wer die Entwicklung der Hauptfigur beobachten will, fängt am besten ganz am Anfang an. Die chronologisch erste Geschichte ist eine kurze Erzählung mit dem Titel Dreamweaver’s Dilemma (nicht auf Deutsch erschienen).
Quelle: Telegram-Kanal, 02.06.2018
Als die Menschheit Wurmlöcher im All entdeckt, die in die verschiedensten Ecken der Galaxis führen, beginnt eine Expansion „nach draußen“. Kolonie Beta wurde bereits vor dieser Entdeckung besiedelt, aber die anderen Planeten sind nur per Wurmloch erreichbar. Auf einem erdähnlichen Planeten, zu welchem nur ein-einziges Wurmloch führt, landen Kolonisten aus Russland, Frankreich und Griechenland. Sie nennen ihre neue Heimat Barrayar und beginnen mit der Terraformung des Planeten, denn Flora und Fauna sind für den menschlichen Bedarf ungeeignet. Kurz darauf ereignet sich die Katastrophe, die Barrayar für immer prägen sollte: das Wurmloch schließt sich und die Kolonisten sind ohne Verbindung zum Rest der Menschheit auf dem Planeten gestrandet.
Während der Fortschritt draußen in der Galaxis unaufhaltsam weitergeht, drehen sich die Uhren auf Barrayar eher rückwärts. Im Laufe der Zeit entsteht auf Barrayar eine militärisch-aristokratische Gesellschaft, die buchstäblich im Mittelalter stecken bleibt. Die größte Angst haben die wenigen tausend Kolonisten vor genetischen Mutationen, deshalb werden Neugeborene mit sichtbaren Mißbildungen – und sei es nur eine Hasenscharte – von den Müttern oder Großmüttern getötet.
Nach Jahrhunderten findet das Imperium von Cetaganda ein Wurmloch nach Barrayar und fällt über den rückständigen Planeten und seine Bevölkerung her. Die Cetagandaner wähnen sich mit hoch entwickelten Waffen und allerlei technischem Schnickschnack den Barrayaranern, die nur über berittene Armeen verfügen, haushoch überlegen. Sie glauben an einen schnellen Sieg – doch es kommt anders. Die barrayaranischen Grafen haben im Laufe des letzten halben Jahrtausends enorm viel Erfahrung in der Kriegsführung gesammelt, in dem sie immer wieder gegeneinander kämpften. Es dauert fast ein Jahrhundert, doch am Ende müssen sich die Cetagandaner geschlagen von Barrayar zurückziehen – und in der Galaxis gibt es plötzlich einen zahnbewehrten neuen Spieler, mit dem sich niemand mehr so schnell anlegt: das Barrayaranische Kaiserreich.
Nicht ganz ein Jahrhundert nach diesen Ereignissen startet die eigentliche Geschichte der Vorkosigan-Saga.
Quelle: Telegram-Kanal, 24.06.2018
Die Welt, in die die Autorin ihre Leser entführt, wirkt sehr real. Sie hat eine Geschichte, sie entwickelt sich weiter. Die immer wieder eingestreuten Anekdoten und Überlieferungen machen Barrayar lebendig.
Die Figuren in den Romanen sind wunderbar gelungen. Sie sind schrullig, abgeklärt, hochmütig, rebellisch, träge, verschlagen, clever, charmant und und und.
Wenn man die Romane in chronologischer Reihenfolge liest, begegnet man zunächst Cordelia Naismith und Aral Vorkosigan, die späteren Eltern von Miles Vorkosigan. Cordelia ist Captain eines Forschungsschiffs und stammt von der fortschrittlichen Kolonie Beta. Aral ist ein degradierter Offizier der Barrayaranischen Raumflotte, genannt „der Schlächter von Komarr“. So verschieden die beiden sind, sie heiraten und zwingen die traditionsbewusste und damit manchmal rückständige Gesellschaft von Barrayar dazu sich weiter zu verändern, ihre Grenzen zu erweitern und neue Chancen zu erkennen.
Aral ist ein naher Verwandter des Imperators, und in der Position des Regenten hat er die Möglichkeit, die Weichen für die Zukunft seiner Welt zu stellen. Als Cordelia und er Opfer eines Giftgasanschlags werden, bei dem auch das ungeborene Kind der beiden vergiftet wird, sieht Aral die Zeit gekommen, einer der barbarischsten Traditionen seiner Welt den Kampf anzusagen. Säuglinge, die mit einer sichtbaren Missbildung zur Welt kommen, werden sofort getötet. Das Giftgas hat dafür gesorgt, dass Miles Vorkosigan verkrüppelt geboren wird, sein Knochenwachstum wurde stark eingeschränkt. Für Cordelia und Aral ist klar, dass sie sich mit halb Barrayar werden anlegen müssen, um ihrem Sohn eine Zukunft zu geben. Selbst der legendäre Graf Pjotr, Arals Vater und Geißel der Cetagandaner, wetzt die Messer, er kann keinen Mutanten in der Familie akzeptieren.
Miles Vorkosigan und sein Alter Ego Admiral Naismisth sind die Hauptfiguren fast aller Barrayar-Bücher. In seinem Gefolge lernen wir seinen trägen und auf den ersten Blick (aber nur auf den ersten!) etwas dumpfen Cousin Ivan Vorpatril kennen, dessen aristokratische Mutter Alys, Miles erste große Liebe Elena Bothari, den überaus charismatischen Kaiser Gregor Vorbarra, den Söldnerkapitän Bel Thorne, Miles‘ rechte Hand Elli Quinn, Miles‘ geschäftstüchtigen Klon-Bruder Mark und sehr viele mehr. Alle diese Figuren sind wunderbar lebendig und machen das Lesen eines jeden Romans der Reihe zum Erlebnis.
Quelle: Telegram-Kanal, 05.07.2018
In den meisten Bänden der Reihe spielt Miles Vorkosigan die Hauptrolle. In Barrayar, dem chronologisch zweiten Band taucht Miles als Fünfjähriger auf den letzten Seiten auf, aber auch hier kann man bereits erahnen, was aus ihm einmal wird – ein Mensch, der niemals aufgibt.
Der dritte Band der Reihe, Der Kadett, widmet sich ganz und gar Miles. Wir bekommen ihn zunächst als gescheiterten 17jährigen Kadettenanwärter zu sehen. Miles hat Glasknochen, deshalb fällt er bei der Aufnahmeprüfung mit Pauken und Trompeten durch. Seine Eltern schicken ihn zur Großmutter auf Kolonie Beta, und hier startet er unbeabsichtigt seine Karriere als Anführer einer Söldnerflotte. Wie das bei Miles meist so ist, schlittert er ganz zufällig in eine Situation, aus der ein anderer nicht mehr mit heiler Haut herausgekommen wäre. Miles ist aber hat schon sehr früh gelernt, seine körperlichen Mängel durch Schläue, Manipulation und unbändige Energie auszugleichen. Von einem Tag auf den anderen steckt er mitten in einem interplanetaren Krieg, muss sich mit Raumpiraten, Untergebenen und entwerteter Währung herumschlagen und zusehen, wie seine Jugendliebe Elena sich in einen anderen verliebt.
Miles Vorkosigan, nach Meinung seines Cousins Ivan ein hyperaktiver kleiner Mistkerl, ist trotz – oder gerade wegen – seiner Fehler sehr menschlich. Er muss sich selbst und Barrayar ständig beweisen, dass es nicht auf Körpergröße und starke Knochen ankommt. Wenn er sich davon einen Vorteil verspricht, flunkert er und fälscht auch schon mal einen Geheimdienstbericht. Zugleich hat er ein tiefsitzendes Verständnis von Ehre, ist ein loyaler Freund und Untertan. Er entwirft Schlachtpläne, scheitert und macht weiter.
Miles‘ Entwicklung vom Teenager über den Admiral einer Raumflotte bis zum hohen barrayaranischen Staatsmann (der seine neugierige Nase in einfach ALLES stecken muss) wird im Laufe der Reihe eindrucksvoll beschrieben.
Die Autorin geht schwierigen Entscheidungen nicht aus dem Weg und wenn Mies Mist baut, muss er ihn ausbaden. Bujold hätte in einigen Situationen den für Miles leichteren Weg nehmen können, andere Autoren hätten es vielleicht sogar getan, aber das ist hier nicht der Fall. Das Leben ist eben nicht immer ein Zuckerschlecken, manchmal wird man eben mit dem Gesicht in den Dreck getunkt. Genau das lernt Miles und reift daran. Ihm dabei zuzusehen, ist Vergnügen und Privileg zugleich.
Quelle: Telegram-Kanal, 21.08.2018
Wie weiter oben schon ausgeführt, sind die Bücher nicht chronologisch erschienen.
Hier die Chronologie der Romane und Kurzgeschichten:
Dreamweaver‘s Dilemma – Kurzgeschichte, spielt mehrere Jahrhunderte vor Barrayar und ist nur an einer kurzen Erwähnung von Kolonie Beta als der Reihe zugehörig zu erkennen / keine deutsche Übersetzung
Die Quaddies von Cay Habitat – Roman, spielt ca. 200 Jahre vor dem Beginn der eigentlichen Reihe
Scherben der Ehre – Roman, erste Begegnung von Cordelia Naismith und Aral Vorkosigan
Barrayar – Roman, Machtkampf auf Barrayar, Cordelia und Aral mittendrin. Miles wird geboren
Der Kadett – Roman, Miles wird versehentlich zum Söldner-Admiral
Berge der Trauer – Kurzgeschichte, Miles untersucht den Mord an einem Säugling
Der Prinz und der Söldner – Roman, Miles schlittert in den Reihen des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes
Cetaganda – Roman, Miles und Ivan geraten auf Cetaganda in eine Verschwörung
Ethan von Athos – Roman, Ethan vom Männerplaneten Athos begegnet auf Station Klein Miles‘ rechter Hand Elli Quinn
Labyrinth – Kurzgeschichte, Miles alias Admiral Naismith auf einer Mission auf Jackson’s Whole
Grenzen der Unendlichkeit – Kurzgeschichte, Miles befreit Kriegsgefangene
Waffenbrüder – Roman, Miles trifft auf seinen Klonbruder Mark
Spiegeltanz – Roman, Mark Vorkosigan in der Bredouille, Miles eilt zur Rettung
Viren des Vergessens – Roman, Miles muss Admiral Naismith begraben und zu Lord Vorkosigan werden / der wohl beste Roman der ganzen Reihe
Komarr – Roman, Miles deckt eine Verschwörung auf Komarr auf und begegnet Ekaterin Vorsoisson
Botschafter des Imperiums – Roman, Miles auf Freierfüßen! Der definitiv lustigste Roman der Reihe
Geschenke zum Winterfest – Kurzgeschichte, Miles heiratet
Diplomatische Verwicklungen – Roman, Miles und Ekaterin und das politische Chaos auf der Quaddie-Raumstation
Captain Vorpatril’s Alliance – Roman, Ivan Vorpatril heiratet und bekommt sehr aufregende Verwandtschaft / leider nicht auf Deutsch erschienen
Cryoburn – Roman, Miles ermittelt auf einem Planeten voller Kälteschlaf-Toter / keine deutsche Übersetzung
Gentleman Jole and the Red Queen – Roman, Cordellia, Vizekönigin von Sergyar, kommt Admiral Jole näher / keine deutsche Übersetzung
Die Bücher sind auf Deutsch leider nur noch antiquarisch zu bekommen, eine Neuauflage in Papierform oder gar als eBook ist nicht in Sicht.
Klare Lese-Empfehlung!
Quelle: Telegram-Kanal, 03.10.2018